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Mut zur Strategie

von Renate Künast und Jürgen Trittin

Lob der Realwirtschaft

Wir stehen inmitten der größten Weltwirtschaftskrise seit den 30er Jahren. Zum ersten Mal seit 1928 stieg in einem Frühjahr die Arbeitslosenzahl in Deutschland, zum Jahresende befürchtet die OECD 5 Millionen Arbeitslose. Doch die Bundesregierung tut so, als erlebten wir nur eine Art konjunkturelle Delle, die es zu überstehen gilt. Das ist falsch. Die derzeitige Wirtschafts- und Finanzkrise hat eine systemische Qualität und anders als in früheren Krisen gibt es keine Märkte, auf die man ausweichen kann.

Systemischen Charakter hat die Krise, weil nicht mehr in reale und zukunftsgerichtete Wertschöpfung investiert wurde, sondern Vermögen in hochspekulative und schädliche Anlageformen geleitet wurde. Deswegen geht es jetzt zwar auch darum, den Finanzmarkt zu stabilisieren, vor allem aber gilt es, die Kapitalströme gezielt in Zukunftsbereiche zu lenken und die Realwirtschaft zu stärken.

Wenn Grüne von den Zukunftsbereichen sprechen, gehen viele davon aus, dass sie die Erneuerbaren Energien meinen oder die Ökolandwirtschaft. Und tatsächlich ist es gelungen, mit der ökologischen und gentechnikfreien Lebensmittelwirtschaft einen Wirtschaftszweig aus der Nische zu holen, der heute 175.000 Arbeitsplätze umfasst. Bei den Erneuerbaren mit seinen inzwischen über 250.000 Beschäftigten handelt es sich um einen der dynamischsten Zukunftsmärkte. Die Umweltbranche ist längst zur neuen Leitindustrie geworden. Aber neuen wirtschaftlichen Schwung wird man nicht nur durch den Ausbau einer kohlenstofffreien Energieversorgung erzeugen können. Das grüne Jobwunder bei den Erneuerbaren Energien allein wird nicht die Arbeitsplatzverluste der Krise kompensieren. Wir Grünen müssen uns - mal abgesehen von der in Abwicklung befindlichen Atomindustrie - verabschieden von der Aufteilung in gute und schlechte Industrien.

Die chemische Industrie und der Automobilbau gelten bisher noch nicht als Aushängeschilder grüner Kernkompetenz. Es ist höchste Zeit, dass sich das ändert. Auch weil wir schon lange gute und zukunftsweisende Ideen für sie entwickelt und angesprochen haben. 1,6 Millionen Arbeitsplätze in Deutschland hängen an Chemie und Automobilbau. Wenn weltweit die Automobilnachfrage um ein Viertel einbricht, wenn die Hälfte der dieses Jahr absetzbaren Fahrzeuge bereits bei den Automobilhändlern steht, dann hat auch die Chemieindustrie ein Problem. BASF macht 15 % seines Umsatzes in der Automotivbranche. Wenn sich dann hoffentlich bald der Trend zu kleineren Fahrzeugen durchsetzt, vergrößert sich das Problem für die Lacke und Schäume produzierende Chemieindustrie. Für moderne sparsame Antriebe braucht es neue elektronische Systeme, braucht es das Know-How von Firmen wie Bosch. Bosch macht 30 % seines Umsatzes in Deutschland mit Opel, 60 % seines weltweiten Umsatzes mit GM. Allein diese Beispiele machen deutlich, wie eng vernetzt die Industrien sind. Gerade deshalb ist es entscheidend, jetzt eine umfassende Vorstellung von unserer zukünftigen Wirtschafts- und Lebensweise zu haben.

Die Frage nach unserer zukünftigen Wirtschafts- und Lebensweise ist die Kernfrage überhaupt. Sie kann und darf nicht allein vom Markt beantwortet, sondern muss demokratisch entschieden werden. Die Antwort muss in einen grünen Gesellschaftsvertrag münden. Was und wie wollen wir produzieren? Wie müssen wir welchen Sektor umgestalten, damit wir nachhaltig wirtschaften und Arbeit schaffen? Das sind Kernfragen, um die es geht. Der Staat kann den dafür erforderlichen neuen Konsens nicht diktieren, aber ist ein wichtiger Akteur bei der Organisation unseres Zusammenlebens und Produzierens. Die Zeit vermeintlicher und vorgeschobener Sachzwänge muss ein für allemal vorbei sein. "TINA" - There is no Alternative - dieses politische Credo von Margret Thatcher hat im wahrsten Sinne des Wortes abgewirtschaftet.

Deswegen brauchen wir jetzt eine neue, eine strategische Wirtschaftspolitik, die die deutsche Industrie nachhaltig stützt und aufbaut. Wir brauchen eine Wirtschaftspolitik, die sich nicht darauf beschränkt, einen bloßen Ordnungsrahmen zu setzen. Wir brauchen eine Wirtschaftspolitik, die sich neben Anreizen und Verboten auch einer umfassenden industriepolitischen Klaviatur klug zu bedienen weiß. Das Ziel muss sein, Ökonomie und Ökologie zusammen zu denken und mit allen Akteuren den Übergang in klimafreundliches Wirtschaften und nachhaltige Arbeitsplätze zu schaffen.

Deutschlands Unternehmen sind in vielen Bereichen Weltspitze, in der Chemie, im Maschinenbau und in der Elektroindustrie. Sie können wichtige Beiträge zur ökologischen Modernisierung der Wirtschaft liefern: im Bereich der Energieeffizienz, der Recycling- und Abfallwirtschaft, der Wasser- und Abwassertechnologien und bei integrierten Verkehrssystemen. Doch dazu muss die Politik wieder entschieden beitragen, dass in reale und nachhaltige Wertschöpfung investiert wird: durch ein innovatives Ordnungsrecht, durch öffentliche Investitionen, durch staatliche Beteiligungen und durch kompetente Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.

Anreize und Grenzwerte

Wenn der Blaumann nicht grün wird, hat er keine Zukunft. Darum muss eine strategische Wirtschaftspolitik dem Markt die Richtung vorgeben. Durch kluge Instrumente lässt sich das Innovationspotenzial des Marktes aktivieren: durch Emissionshandel, die Weiterentwicklung der ökologischen Finanzreform und die ökologische Ausgestaltung des Ordnungs-, Planungs- und Genehmigungsrechts.

Für wahrhaft ökologische Innovationen braucht zum Beispiel die Autoindustrie keine Abwrackprämie, sondern klare Vorgaben und Planungssicherheit durch eine ökologische Kfz-Steuer, die Autos bis 3 Liter je 100 km für 4 Jahre steuerfrei stellt und große Autos deutlich höher besteuert. Wer auf den Exportmärkten auch morgen noch Autos verkaufen will, braucht ohnehin ein Portfolio mit verbrauchsarmen Autos und Elektrofahrzeugen.

Eine strategische Wirtschaftspolitik muss dazu beitragen, dass die Chemieindustrie umsteuert und nicht nur vom Ausbau der Wärmedämmung profitiert. Sie muss einerseits ihre eigenen Produktionsabläufe energieeffizient und ressourcenschonend optimieren, andererseits den Wechsel einleiten von der erdölbasierten Kunststoffchemie hin zu einer Produktion, die auf nachwachsende Rohstoffe wie Mais setzt.

Die Elektroindustrie soll von einem Top-Runner-Ansatz profitieren, in dem das energieeffizienteste Gerät einer Klasse den Standard setzt, den alle Geräte innerhalb einer bestimmten Frist erfüllen müssen, um nicht vom Markt zu fliegen. Japan hat das erfolgreich vorgemacht und damit seine Elektroindustrie regelrecht nach vorne gepuscht. Eine leistungs- und wettbewerbsfähige Industrie, zukunftsfähige Arbeitsplätze und eine ressourcenverträglichere Produktion gehen so Hand in Hand.

Die Beispiele verdeutlichen, wie Grenzwerte und Anreize Innovationen fördern. Aber Deutschland muss sich warm anziehen im Wettrennen um Technologieführerschaft, allemal jetzt, wo die USA unter Präsident Obama ökologisch erwacht.

Öffentliche Investitionen

Eine grüne und strategische Wirtschaftspolitik muss mit öffentlichen Investitionen die zukünftigen Infrastrukturen bauen. Intelligente Strom- und Wärmenetze sind ein Rückgrat. Energie muss dezentral und regenerativ erzeugt, die Abwärme zum Heizen genutzt werden. Neue intelligente Systeme müssen her, wie Plug-In-Hybride - Elektroautos als dezentrale Stromspeicher, die nachts mit Windstrom aufgeladen werden. Die Mitarbeiter von Google werden beim Kauf von Elektroautos unterstützt, dafür schließen sie ihren Wagen auf dem Firmenparkplatz an das Stromnetz an und geben überschüssige Energie ab. So sollte die Zukunft aussehen - nicht nur auf einem Firmenparkplatz. Wir wollen Deutschland an die Spitze dieser Entwicklung führen.

Moderne Stromnetze sind der Motor der Zukunft. Sie bilden auch die Grundlage dafür, dass sich intelligente Haushaltsgeräte den Strom aus dem Netz ziehen, wenn er reichlich und damit günstig vorhanden ist. Auch die Mobilität der Zukunft ist vernetzt. Individuelle und öffentliche Mobilität greifen nahtlos ineinander. Dazu muss der Staat massiv in den Ausbau von ÖPNV, den Schienenverkehr und seine intelligente Vernetzung zu verlässlichen Reiseketten investieren und den Güterverkehr auf die Schiene verlagern.

Staatsbeteiligungen

Wenn gesunde zukunftsträchtige Unternehmen jetzt ohne eigenes Verschulden in Schwierigkeiten kommen, müssen Staatsbeteiligungen zum Teil einer strategischen Wirtschaftspolitik werden. Voraussetzung dafür ist ein überzeugendes Zukunfts- und Modernisierungskonzept der Unternehmen, sonst lässt sich der Einsatz von Steuergeldern nicht rechtfertigen.

Im Maschinenbau haben knapp 90 Prozent aller Unternehmen weniger als 250 Mitarbeiter, die meisten Unternehmen haben keinen direkten Zugang zum Kapitalmarkt und finanzieren sich über Kredite. Wenn diese Unternehmen aufgrund der Bankenkrise jetzt Finanzierungsprobleme haben, wäre es unsinnig, sie ohne Klärung ihrer Zukunftsperspektiven pleite gehen zu lassen.

Die staatliche Beteiligung zum Erhalt von Unternehmen ist für Grüne kein Selbstzweck und kein Allheilmittel, aber staatliche Beteiligungen können dazu beitragen, in der Krise den Verlust wichtigen Know-hows, den Zusammenbruch regionaler Innovationscluster und Wirtschaftnetzwerke und nicht zuletzt den mittelfristigen Verlust von Arbeitsplätzen und qualifizierten Arbeitskräften zu verhindern.

Arbeitnehmerkompetenzen

Eine strategische Wirtschaftspolitik muss die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit in den Mittelpunkt stellen. Wir wollen den Menschen in der Krise ein Angebot machen und setzen dabei auch auf regionale überbetriebliche Transfergesellschaften. Alle Menschen die ihren Arbeitsplatz verlieren, sollen ein Qualifizierungsangebot erhalten und, wo immer möglich, am besten für unser aller Zukunft dazulernen. Wenn wir wollen, dass Schornsteinfeger in Zukunft auch Energieberater sind, müssen wir sie dazu ausbilden. Und wer gestern im Maschinenbau beschäftigt war, sollte befähigt werden, morgen am Windrad zu schrauben. Der Bedarf an kreativen Menschen in der Krise ist hoch. Wir sollten die Mitarbeiterbeteiligung ausbauen und mit einer modernen Unternehmenskultur dafür sorgen, dass Beschäftigte über die bestehenden Rechte hinaus in Entscheidungen eingebunden sind und am betrieblichen Erfolg teilhaben.

Dies sind zentrale Elemente einer strategischen Wirtschaftspolitik und grüne Antworten auf die und aus der Wirtschaftskrise. Wir brauchen keine kurzatmige Konjunkturpolitik, sondern einen mutigen Gestaltungsanspruch. Eine Politik, die auch kurzfristig wirkt, aber als Zeithorizont nicht den 27. September 2009 im Blick hat, sondern die soziale und ökologische Weltwirtschaft von 2020.

Quelle

http://www.gruene.de

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