Kiss the Notwendigkeit!
von Nikolai Wolfert
1. Kritik: Lobos unterstellte Universalansprüche
Sascha Lobo behauptet, dass der Satz "Das ist sinnlos" sinnlos ist. Lobo legt einen Rationalitätsmaßstab an die Alltagssprache der User an, den der User in der Alltagssprache gar nicht einlösen will, kann, sollte. Niemand erhebt im Alltag einen universalen wissenschaftlichen Wahrheitsanspruch. Es ist daher sinnfrei Alltagssprache nach wissenschaftlichen Kriterien abzuurteilen wie Lobo es tut. Aber warum ist Lobo dies so wichtig?
2. Kritik: Lobos Differenzierungsprobleme und die Vernachlässigung der Funktion der Urteilskraft
Lobo vermengt (wie auch in der Alltagsprache üblich) die Begriffe Nutzen und Sinn.
Der Begriff Nutzen ergibt sich aus dem Zusammenhang (Relation) eines Akteurs mit einer Sache. Die gängige Wirtschaftstheorie gibt vor, dass der Nutzen von Gütern/ Dingen entlang einer Indifferenzkurve variert. Der Nutzen wird nicht gegen Null (nutzlos, wertlos) laufen, sich aber annähern. Im Alltag landen Dinge nach dem ein Akteur ihnen den Status "nutzlos" zugeschrieben hat dann typischerweise im Mülleimer.
Zum Begriff Sinn: Aus der Ethnomethodologie (z.B. Harold Garfinkel) geht hervor, dass wir "die Welt nicht aushalten, wenn die Welt in Unordnung ist. Deshalb konstruieren wir die Wirklichkeit fortlaufend so, dass sie Sinn macht. Wir ordnen neue Erfahrungen in ein vertrautes Muster ein, und schon wissen wir Bescheid." Akteure müssen Sinn (Bewertung, Beurteilung) über Situationen, Dinge, Personen erst herstellen.
Lobo vermengt und differenziert nicht (und damit analysiert/beobachtet er nicht) den technischen Fortschritt der Dinge und die Überfülle der Dinge.
Um der Fülle von Dingen (wie auch der Fülle von Kommunikation etwa der eMails) Herr zu werden, müssen Dinge durch Urteilsvermögen gewichtet und reduziert werden. Manche Dinge sind nützlich, andere weniger.
Ebenso müssen neue Dinge beurteilt und interpretiert werden, damit ihr Nutzen verstanden wird. Wir brauchen daher Urteilskraft aus zwei Gründen:
1) Die Überfülle muss reduziert werden. Wichtiges von weniger wichtigem muss unterschieden werden. Die Guten ins Töpfchen.
2) Die neuen Dinge müssen interpretiert/bewertet werden, damit sie einen Sinn haben.
Das urteilende User auch einen Irrtum begehen, ist normal. Etwas wurde weggeschmissen, was wichtig war. Etwas wurde gekauft, was unnütz rumliegt. Aber ohne Urteile über Dinge wäre gar kein Alltag möglich. Wir würden in Dingen ersticken. Wir könnten nicht sagen, was wir brauchen und was nicht. Wir brauchen auch nicht alles. Ohne Urteilskraft keine Handlungs- und Nutzungsfähigkeit.
Abschluss
I Menschen müssen Herr über Dinge bleiben, brauchen daher die selektive (sinngebende) und reduzierende Urteilskraft über Dinge. Ansonsten droht den Nutzern mit der fortschreitenden Inflation der Dinge das stahlharte Gehäuse der Dinge.
II Den Raum der Notwendigkeit (auch des Sinnvollen) haben wir längst verlassen. Handyklingeltöne, SUV, Gratis-online-Spiele unsere Nachkriegsgeneration würde den Kopf über uns schütteln.
III Zuletzt gebe ich Lobo Recht. In einer Hinsicht ist der Satz "Das braucht niemand" ein Indikator. Wir erleben eine Phasenverschiebung (cultural lag). Der User kommt mit Verstehen und Bewerten nicht mehr nach. Der rasende Fortschritt bzw. die Gegenwart der Überfülle (Komplexität der Ding-Umwelt) wird nicht mehr verstanden und deshalb abgelehnt. Wir brauchen dringend mehr Sinn/Verstehen/Bewertung. Wir brauchen eine Ordnung der Dinge.